7 items zum Netz


von

Siegfried Zielinski

mailto:ziel@khm.uni-koeln.de



			1.
Mitunter brechen unvorhergesehene Ereignisse ins telematische Netz ein. In der Ausgabe der FINEART - ART & TECHNOLOGY NETNEWS vom 15. Dezember 1994 lancierte Jeremy Grainger via Fringeware die AP-Nachricht vom Suizid Guy-Ernest Debords; der Text lapidar: "He was 62 ... Little known outside France, Debord denounced what we called >the show-biz society< and declared that performing arts should be based on powerful emotions, passions and sexual desire. His ideas were influential among theoreticians and essayists who achieved prominence in the May 1968 student-led cultural revolt that shook French society." That was it. Der Freitod des Mitbegründers der Situationistischen Internationalen, der vor mehr als zwei Dekaden in seiner "Gesellschaft des Spektakels" diagnostizierte, daß alles direkt Gelebte in Repräsentation entwichen wäre, und der darin der Telekommunikation attestierte, daß sie zwar das Separate wiederzuvereinigen vermöchte, aber eben als Separates, affektierte die im Netz ordentlich aufgereihten Symbole und denjenigen, der sie zur Schrift stellte, nicht. - 1952, im Alter von 23 Jahren, hatte Debord einen Film gemacht, der mit einem wie zufällig (random-artig) organisierten Dialog arbeitete. Er hieß "Howlings in Favour of Sade". Darin sagt die 2. Stimme an einer markanten Stelle: "Die Perfektion des Selbstmords liegt in der Ambiguität." Danach weist das Drehbuch an: "5 Minuten Stille, während der die Leinwand dunkel bleibt."



2.

Die Sprache im Netz ist unerhört lebenszugewandt. Sie ist prinzipiell positiv, bejahend, apologetisch, smart. Sie sprüht vor Energie. Sie ist ein elektronischer Jungbrunnen. Die Rechenmaschinen, ihre Konstrukteure und die ausgeworfenen Verbindungen erlauben und ermöglichen und unterstützen (zum Beispiel die Natur). Programme führen und organisieren und selektieren. Es werden Landschaften erzeugt und Populationen oder Generationen, die sich zudem noch dynamisch entwickeln und in (Selbst)Organisation entfalten dürfen. Die Schnittstellen haben interaktiv und (im aristotelischen Sinne) einfühlsam oder gar interaktiv biokybernetisch zu sein, also Lebendiges im closed circuit zu organisieren. Ihre Agenten haben keine hochgestellten Mantelkragen, hinter denen sie ihr Gesicht verbergen; führen nichts im Schilde, noch sucht man sie im Untergrund; sie sind ins Licht gesetzte Touristenführer, die zum entspannten Surfen einladen. Die Wellen von Möglichkeiten, in denen sich die Quantenwahrheiten viele Jahrzehnte nach ihrer physiktheoretischen Erfindung zwischen den Kriegen nun formulieren, exkludieren die Gewalt des Zusammenhangs und sie sind weder Wellen des Schmerzes noch der Wonne. "Die Verknüpfung von Sensordaten mit Parametern der Benutzerinteraktion erlaubt sinnvolle Korrelationen über verschiedene Leistungsmodalitäten hinweg." In Chris. Markers, von der Musik Mussorgskys inspiriertem, "Sans soleil" begegnen wir einem Japaner, der ständig Listen anfertigt, zum Beispiel Listen von Dingen, die unser Herz schneller schlagen lassen. Ich habe damit begonnen, eine Liste von Phänomenen, Phantomen und Modi anzufertigen, die ich im Netz und den immer länger werdenden Sprachkolonnen, die es thematisieren, vermisse. Sie besteht substantivisch u.a. aus folgenden Favoriten:


ambiguität
attack
beunruhigung
collaps
cruelty
dämmerzustand
dark anguish of spaces
devianz
discomfort
diskongruenz
ekstase
ekzem
evil
exzess
gefahr
hysterie
irritamen
inzest
leidenschaft
macrogenetosomia praecox
monster
neurose
obsession
pathologie
perversion
risiko
schrei
sehnsucht
tod
trieb
unterbruch
verbrechen
verführung
wollust
zorn
zweifel


			3.
Die Dissidenten der surrealistischen Bewegung hatten - bei allen Divergenzen zum Beispiel zwischen Artaud, Bataille, Duchamp oder Leiris - ein gemeinsames Zentrum, aus dem heraus sie ihr Verhältnis zur (intellektuellen und künstlerischen) Welt gestalteten: Sie irritierten den (eigenen marginalen wie den hauptsächlich fließenden) Strom: mit ihrer Ablehnung jedweder funktionalistischer Ethik, ihrem Widerstand gegen das eindimensional Rationale, ihren Zelebrationen des nichtunterdrückenden Vergnügens und der ästhetischen Entfaltung der Begierde als existenziellem Modus. Das Denken abseits hierarchischer Strukturen und das ästhetische Handeln immanent einer wilden Heterogenität des Nebeneinander hatten dabei für sie imperative Bedeutungen. (Die Philosophie und die Kulturkritik holten diese Paradigmen erst viel später, etwa mit dem Werk des Duos Deleuze/Guattari, ein.) Besonders für leidenschaftlich leidende Figuren wie Antonin Artaud war dabei Bezugspunkt der künstlerischen Praxis das nicht auflösbare Doppel von Erfahrung und Sensation, das er - in der Radikalität nur noch mit dem literarischen Bataille vergleichbar - der reinen Praxis des Begriffs/Konzepts gegenüberstellte, wie sie auch die Arbeit eines Duchamp, trotz aller Verrücktheit und Extravaganz, wesentlich prägte. Welche Orientierung hat die hyperrealistische Avantgarde? Welche vermag sie sich noch zu erarbeiten und zu erobern? Das Unbewußte scheint bewußt totgeschrieben worden zu sein nach Freud und Lacan (der sich am wenigsten an seine Erkenntnis, "es gibt Probleme, die man sich entschließen muß aufzugeben, ohne sie gelöst zu haben," hielt) und vor allem durch deren zahllose Adepten und Interpretanden. Aktivisten, Situationisten und Performance-Künstler der 50er und 60er und frühen 70er haben ihre Körper bis zur (Selbst)Verstümmelung und (Selbst)Vernichtung gegen den Diskurs und die Dispositive der Macht ins Gewicht geworfen. Also die Re-Orientierung am Konzept/Begriff, jetzt der Natur- und Lebenswissenschaften, an der Illusion der Kontinuität, des Fließenden, der schönen Ordnung im Chaos? Oder die Schaffung neuer künstlicher Körper in Form von Körpern des Wissens und ihre Inszenierung als ästhetisch erfahrbare Volumina in der Tele-Zeit, bewegliche und flüchtige Artefakte im musealen Raum?
			4.
Die Arbeit der Laborgruppe >Knowbotic Research< deutet einen möglichen Weg an: Ihre Gebilde und Werkstattprozesse sind faktional, d. h., sie sind sowohl aus Erfahrungsdaten gewonnen als auch sie radikal dem Reich der Fiktionen entstammen und immer wieder dorthin flüchten zu wollen scheinen. Im circensischen Netz wollen sie (Wissen und dessen Organisation) führend visualisieren und zugleich deuten sie die Verführung an, ohne die Kunst als Sensibilisierungsterrain für die Erfahrung des Rätselhaften nicht(s) ist. Um diesen Charakter des Doppelagenten entfalten zu können, wird den "Knowbots" ein zweiter Existenzmodus zugewiesen, der auch jenseits des Netzes Gestalt anzunehmen vermag: im Ereignis, in der einmaligen Inszenierung des öffentlich zugänglichen Raums werden sie wieder Erfahrungskörper, Sensationen.
			5.
Die am meisten komplexe mythologische Praxis mit der komplexesten Sprache, die mir bekannt ist, scheint mir die theoretische Kabbalah zu sein: "eine Technik, den Verstand zu benutzen oder auch eine Gebrauchsanweisung für die menschliche Intelligenz ... manche sagen, die Kabbala sei Adam nach der Vertreibung aus dem Paradies von den Engeln als Mittel der Rückkehr überreicht worden" (Wolff). Die 10 Sephiroth mit ihren 22 Verbindungspfaden bilden ein unerschöpfliches netzwerkartig geformtes Reservoir an Assoziationen, Verknüpfungen, Interpunktionen, prinzipiell binär aufgebaut aus den grundlegenden Spannungen der theoretischen Vernunft (CHOCKMAH) und der Kraft zur Konkretisierung, zur Formgebung (BINAH). Der einzig sinnvolle Modus, in dem die Kabbalah sich lesen und immer wieder neu erschließen läßt, ist derjenige der Interpretation. Sie ist darin der Kunst verwandt. Die Texte Edmond Jabès' sind philosophische Poeme. Von Marcel Cohen im Gespräch über das Unlesbare danach befragt, was er unter der 'Suberversion' eines Textes verstehe, knüpft er zunächst am Beginn jeder Subversion, nämlich der Störung an. Die Paradoxie, daß er er ja selbst mit grammatikalisch korrekten Sätzen und in ihrer jeweiligen semantischen Bedeutung belassenen Wörtern operiere, löst er kabbahlistisch: "Ich habe weder versucht, den Sinn des Satzes zu zertrümmern, noch die Metapher, sondern im Gegenteil: sie zu verstärken. Nur in der Kontinuität des Textes zerstören sie sich; das Bild, der Satz und ihr Sinn, wenn sie mit einem Bild einem Satz, einem Sinn konfrontiert werden, die ich für ebenso stark halten möchte. Den Sinn anzugreifen, indem man sich gegen den Satz auflehnt, hieße nicht, ihn zu zerstören, sondern im Gegenteil ihn dadurch zu bewahren, daß man den Weg auf einen anderen Sinn hin öffnet. Für mich ist das alles so, als ob ich mich zwei entgegengesetzten Diskursen gegenüber befände, von denen jeder dieselbe Überzeugungskraft hat. Daraus ergibt sich die Unmöglichkeit, den einen gegenüber dem andern zu privilegieren, welche die Herrschaft des Sinnes über den Satz ständig hinausschiebt. Das Ungedachte wäre vielleicht nichts anderes als die gegenseitige Aufhebung zweier widersprüchlicher und letzter Gedanken." Hierin könnte ein Schlüssel enthalten sein für ein ästhetisches Agieren innerhalb von Ordnungen und Strukturen, die zwischen dem Pentagon, den Akademien und dem Markt noch geringfügige Möglichkeiten offen lassen für die temporäre Störung, das filigrane Flechten von Labilitäten.
			6.
Im Netz gibt es in diesem Sinne (noch) keine Kunst: es hatte (noch) keine Zeit, eine Vorstellung vom Anderen zu entwickeln, die im Fluchtpunkt eine Vorstellung vom Tod wäre. Das Modell der Netzkultur ist das Leben, und weil es dort seine einmalige Existenz aufzugeben hat, wird es leicht und in der Regel zum model. Die Algorithmen, mit denen die Ingenieure und Artisten im mehr oder weniger geheimen Auftrag der Circe Telecom arbeiten, sind dem Bio-Logischen abgeschaut, ins Mathematische übersetzte Lebensforme(l)n. Genetische Algorithmen sind nützlich und bestechen aufgrund ihrer Nähe zum Diesseitigen. Sie strotzen vor Kraft und vor Zuversicht. Für die Kunst käme es auf den Versuch an, Algorithmen der (Selbst)Verschwendung, des Stockens, der Ekstase und der (Selbst)Zerstörung zumindest im Experiment zu erfinden. Das Risiko mitbedacht und eingegangen, daß möglicherweise nicht viel zu sehen und zu hören sein würde, transformierte man sie in Bilder und Töne. Im universellen Schatten, im schwarzen Halo, in dem sich die kraftvollen lichten Wissenskörper der Knowbotic Research bewegen und der sie zugleich daran hindert auseinanderzutreiben, ist etwas von diesem Geheimnis enthalten.

			7.
"Wenn die unabhängig gewordene Kunst ihre Welt in leuchtenden Farben malt, ist ein Moment des Lebens alt geworden, und mit leuchtenden Farben läßt er sich nicht verjüngen, sondern nur in der Erinnerung wachrufen. Die Größe der Kunst beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung des Lebens zu erscheinen." (Guy Debord, Die Gesellschaft des Spektakels, deutsche Fassung, Hamburg 1978, 188.)