Heus tu, traveller, heus tu 1

von

I.J. Terzol




In der Frage, ob es möglich sei, von möglichen Welten zu sprechen, kam Umberto Eco zu einem positiven Ergebnis. Für einen Leser ist die Leseleistung, d.h. Antizipationen und Realisationen eines möglichen Geschichtsverlaufs, nichts weniger als das Wagnis einer "Hypothese über Weltstrukturen" 2, wobei er sich im steten abgleichenden Rückgriff auf die Enzyklopädie als der Gesamtheit alles logisch Möglichen in einem begrenzten Universum der Machbarkeit versichert. Die Rückgriffe des Lesers nennt Eco "inferentielle Spaziergänge", bei denen die Struktur des Textes über den Charakter der Spaziergänge entscheidet: Je stärker der Text mit "Nicht-Gesagtem, mit Leerräumen verflochten ist", was überwiegend für den Gegenwartsroman zutrifft, desto `abenteuerlicher´ sind sie. 3 Diese Leerräume, Bruchstellen der logischen Totalität eines Textes, mit dem literaturwissenschaftlichen Terminus "Leerstellen" benannt, manifestieren sich hauptsächlich auf der strukturellen Ebene und sind gewissermaßen die Türen, die die Spaziergänge erst erlauben.

Vergleicht man zwei bestimmte Romane der Weltliteratur, Laurence Sternes Tristram Shandy und James Joyces Ulysses, so läßt sich an ihnen die Verschiedenartigkeit solcher Spaziergänge aufzeigen. Bedeutsam an beiden Romanen ist, daß vorwiegend in ihrer Form nachzuspüren ist, worin die Abbildung der vermeintlichen, wahrhaften Strukturen der Welt bestehen könnte. Wer es wagt, Laurence Sterne auf dem biographischen Trip durch die


digressions 4 zu begleiten, wird diesen Spaziergang als einen erleben, bei dem die Worte eindeutige Wegweiser sind und der Leser zudem vom Autor noch fest bei der Hand genommen wird. Dagegen ist der Gang durch den Ulysses ein Irrgang durch ein Labyrinth, in dem sich dem Leser bei jeder Kreuzung eine Fülle von möglichen Wegweisen eröffnen.5 Die Beziehung zwischen Autor und Leser ist nicht länger gouvernantisch bevormundend, sondern der Autor Joyce entläßt Werk wie Leser in die Autonomie: "The mystery of esthetic like that of material creation is accomplished. The artist, like the God of creation, remains within or behind or beyond or above his handiwork, invisible, refined out of existence, indifferent, paring his fingernails." 6 Am Ende dieses Spaziergangs wird der Leser nicht - wie bei Sterne - an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit (und zwar im Jahre 5 vor des Knaben Tristram Shandy Geburt, dessen Leben in seiner enzyklopädischen Gesamtheit zu erzählen Sterne sich anschickte) belanden (und erheitert bemerken, daß er einer Riesenverhohnepipelung, nämlich des Humeschen Assoziationsgesetzes und seinem Folgezusammenhang von Ursache und Wirkung, aufgesessen ist), sondern er wird (hier den Gesetzen der "freien" Assoziation folgend) sich im Irgendwo wiederfinden, mag sein auf dem Mond, Mars, im homerischen Urzeitalter oder im 21. Jahrhundert und wissen, daß er mehr weiß als vorher, ohne genau sagen zu können, worin dieses Wissen besteht.
Was nun geschieht, so lautet das Gedankenexperiment, wenn Netzwelten ihrer Struktur nach als den Wortwelten verwandt aufzufassen sind? Was ergibt sich daraus für den Netzwanderer? Ich meine, sein Wandern wird ein Lesen, wobei er die Wahl zu treffen hat zwischen dem Sterneschen parodierten An-der-Hand-gehen und der Joyceschen Lustreise, auch wenn die `Enzyklopädie´, die Landschaft, in der er seine Spaziergänge unternimmt, der Gestalt nach eine andere geworden ist. "Die Enzyklopädie von morgen, das sind die Datenbanken. Sie übersteigen die Kapazität eines jeden Benutzers. Sie sind die `Natur´ für den postmodernen Menschen."7 So verstanden, ersetzt eine zweite `künstliche´ Welt der Daten die bisher als solche genannte Natur, während die hypothetische, `künstlerische´ der Literatur diese nicht zu ersetzen, sondern zu ergründen und zu verstehen versucht. Die Frage ist allerdings, ob diese Zweiteilung so zwingend notwendig ist, und ob der Netzwanderer wirklich keine Wahl hat. Gesetzt den Fall, Spaziergänge sind Erkenntnisgänge in eine Enzyklopädie, bei denen die Gesamtheit unserer positivistischen Sinne überfordert scheint, so ist ein anderes Vermögen gefordert.



Will man dafür ein altes Wort bemühen, so kommt man damit erstaunlich weit: die Einbildungskraft. Nach Kant haben wir: "[...] eine reine Einbildungskraft, als ein Grundvermögen der menschlichen Seele, das aller Erkenntnis a priori zum Grunde liegt. Vermittelst deren bringen wir das Mannigfaltige der Anschauung einerseits, und mit der Bedingung der notwendigen Einheit der reinen Apperzeption andererseits in Verbindung. Beide äußerste Enden, nämlich Sinnlichkeit und Verstand, müssen vermittelst dieser transzendentalen Funktion der Einbildungskraft notwendig zusammenhängen; weil jene sonst zwar Erscheinungen, aber keine Gegenstände eines empirischen Erkenntnisses, mithin keine Erfahrung geben würden." 8 Die reine Einbildungskraft als "Grundvermögen der menschlichen Seele" und Grundvoraussetzung aller Erkenntnis hat ihr kreatives Äquivalent in der Einbildungskraft als ästhetischem Vermögen: "Die Einbildungskraft (als produktives Erkenntnisvermögen) ist nämlich sehr mächtig in Schaffung gleichsam einer andern Natur, aus dem Stoffe, den ihr die wirkliche gibt. Wir unterhalten uns mit ihr, wo uns die Erfahrung zu alltäglich vorkommt; bilden diese auch wohl um: (...) wobei wir unsere Freiheit vom Gesetze der Assoziation (welches dem empririschen Gebrauche jenes Vermögens anhängt) fühlen, nach welchem uns von der Natur zwar Stoff geliehen, dieser aber von uns zu etwas ganz anderem, nämlich dem, was die Natur übertrifft, verarbeitet werden kann." 9 Die Vorstellungen der andern Natur mit Hilfe der Einbildungskraft nennt Kant Ideen, die Aufgabe, diese "in einer Vollständigkeit sinnlich zu machen, für die sich in der Natur kein Beispiel findet" 10, hat für ihn einzig der Dichter. Dabei fassen wir den Begriff des Dichters im weitesten Sinne als den eines Creators auf: Poesis bezeichnet das Erschaffene und den Schöpfer gleichermaßen und ist die Widerlegung des Weltengrundsatzes nihil ex nihilo fit. "Du weißt doch, daß Dichtung etwas gar Vielfältiges ist. Denn was nur für irgend etwas Ursache wird, aus dem Nichtsein in das Sein zu treten, ist ingesamt Dichtung. Daher liegt auch bei den Hervorbringungen aller Künste Dichtung zugrunde, und die Meister darin sind sämtlich Dichter." 11 Für Platon sind dies die Bestimmungen des Eros. Er ist Motor unseres dichterischen Vermögens als erkennendes und schöpferisches, erkennend in Hinsicht auf die Erfahrbarkeit der wirklichen Natur, schöpferisch im Sinne der Erschaffung einer `andern´, einer zweiten, hypothetischen Natur. Das erotische Begehren nährt sich aus der schmerzlichen Wahrnehmung des klaffenden Chorismus' zwischen den beiden Naturen und dem gleichzeitigen Bedürfnis, diesen in der Imagination zu kompensieren.
Diese Kompensationen geschahen und geschehen gemeinhin auf zweierlei Art: durch das Dogma und durch die Kunst. Die obige Welten-Teilung ausnützend, stellen Dogma und Kunst die Grundmittel einmal der künstlichen und zum anderen der künstlerischen Welten dar, die den Bilderwelten einer- und den Textwelten andererseits entsprechen. Die künstlichen sind Bilderwelten (ihrer Struktur - nicht ihren Darstellungsmitteln zufolge!), weil sie den Chorismus leugnen und aus einer einzigen Perspektive heraus Weltbilder mit Abbildern der ersten Natur verwechseln und sie statisch zu fixieren versuchen. Dabei lassen sie einen ihnen immanenten horror vacui erkennen, der Leerstellen unmöglich macht, weil das vorgesteckte Ziel in der lückenlosen Illusion einer festgefügten eindimensionalen Weltinterpretation besteht. Ihrem analytischen Wesen nach sind sie dem bereits Bestehenden und somit einer Ideologie verhaftet, und ihr Verhältnis zum Betrachter ist das einer Unfreiheit. Machtmittel eines diktatorischen Artifex sind diese Welten, eines Bildners, der sich eben nicht (die Fingernägel manikürend) aus ihnen zurückgezogen hat, sondern den Wanderer in ihnen entmündigt, indem er ihn fortwährend zum tüchtigen Mitmarschieren auffordert. ("Now, if you venture to go along with me..."12 , ruft Sterne augenzwinkernd den Leser auf, und wer es blauäugig tut, wird tüchtig an der Nase herumgeführt.) Die künstlerischen, poetischen Welten hingegen bejahen den Chorismus, huldigen dem Unerklärlichen und seinen kreativen Leerräumen. Ihr Ziel ist es, Welten der fragmentarischen, mehrdimensionalen, multiperspektivischen Simulationen als hypothetische Strukturen des Weltgeschehens zu errichten, und nie etwas anderes vorgeben zu wollen als Hypothesen. Ihrem Wesen nach synthetisch, sind sie den Erfordernissen der Einbildungskraft dienlicher als die bildgestützten und sichern dem Leser mit Hilfe der Leerräume die Freiheit, die für ein creativ-poetisches, demokratisch-dynamisches, ja erotisch-erkennendes Verhältnis zu dem, was wir Natur nennen, so bezeichnend ist.
Als musivisch wird das Vorgehen von Joyce bei der Erschaffung seines "Webermeisterstück(s)" 13 charakterisiert, das Netz 14, das Mosaik und mehr noch das Labyrinth sind dessen optische Metaphern, wie für Sterne (da sein Werk als Parodie das Gegenteil dessen ist, was es zu sein vorgibt) die "marbled page ... motley emblem" 15 seines Romans ist. In Anlehnung an Arno Schmidts Wortbildung der im Ulysses zum Ausdruck kommenden "Reichealltäglichkeit" 16 herrscht in den wahren pluralistischen, poetischen Welten eine uneingeschränkte `Reicheallmöglichkeit´, die es gegenüber den illusionistischen, monistischen Bildwelten zu entdecken, zu durchleben und zu verteidigen gilt. Genausowenig wie Poesie nur die reimhafte Aneinanderfügung von Wörtern bedeutet, ist das Lesen also nur als das optische und verstandesmäßige Erfassen eines Textes zu betrachten. Die Lesbarkeit der Welt ist nach Hans Blumenberg die Metapher für ihre Erfahrbarkeit 17, das Lesen somit die sukzessive, allmähliche, musi(vi)sche Erkenntnisannäherung an die Rätselhaftigkeit des Weltsinns.
Lesen ist Naturwissenschaft, Erfahrungssammeln in der ersten wie in der zweiten Welt. Der Netzwanderer müsse, so lautet der Schluß, als Erkenntnissuchender ein Lesender werden, dann wenn er anerkennt, daß beide Welten, Netz-wie die Lese-Welt, von gleicher Natur sind. Erkenntnis ergibt sich erst, wenn man die eine mit den Mitteln der anderen erkundet. Das nichtgeleugnete, teilhafte Verhältnis zwischen enzyklopädischer Natur und ihrer kasuistischen, imaginären Verwirklichung macht Daten- wie Lesereisen zu einem ontologischen Unterfangen, dessen Ziel der totalitären Erkenntnis jedoch nie erreicht werden wird, weil das Reisen in die Wahrheit am Ende ja doch nur wieder das Ziel selber ist. Dann, wenn die Netzwelten sich verstehen als ein künstlerisches Äquivalent einer nicht bis ins letzte erkennbaren und darstellbaren `Reicheallmöglichkeit´, wird nicht die flächendeckende Enzyklopädie der Netzwelt (die technisch machbar ist) an dieser das Wichtige, das Aufregende, das Neue sein, sondern die Art und Weise, wie wir uns in ihr bewegen: spazierengehend und also lesend und also poetisch - vom Erotischen mal ganz zu schweigen.





1 Henry Fielding: Joseph Andrews, London/Harmondsworth 1987, S. 107 2 Umberto Eco: Lector in fabula. Die Mitarbeit der Interpretation in erzählenden Texten, München 1990, S 143 3 Eco: Lector in fabula, a. a. O., S. 150. 4 Jean-François Lyotard: Das Postmoderne Wissen. Ein Bericht. Bielefeld 1982, in: Theatro Machinarium, Heft 3/4, S. 97 5 Laurence Sterne: Tristram Shandy, Harmondsworth 1983, S 454. Die hier graphisch dargestellte "Abschweifungen" als kursorische Wandelgänge abseits eines linearen Erzählverlaufs bilden das Strukturprinzip des Romans. 6 Nicht von ungefähr ist das jugendliche literarische alter ego von Joyces Stephen Dedalus. Dädalus war bekanntlich der Erbauer des mythischen Labyrinthes. 7 James Joyce: A Prträt of the artist as a young man, London 1987, S. 194f. 8 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft A 123/ A 125. Band III der Werkausgabe, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt 1974, S. 178 f. 9 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, § 49, Band X der Werkausgabe, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt 1992, S. 250. 10 ebd., S 251. 11 Platon: Symposion, 205c 12 Sterne: Tristram Shandy, a. a. O., S. 107 13 Arno Schmidt: Das Buch Jedermann, in: Dorst. Das essayistische Werk zur angelsächsischen Literatur in 3 Bänden, Bargfeld 1994, Band III, S 18-42, S 34. 14 Sterne: Tristram Shandy, a. a. O., S. 232. 15 Arno Schmidt: Das Buch Jedermann, a. a. O.. S. 21 16 Hans Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt/Main 1986