> Das Buch der Natur in der Schrift der Kultur von
Hans Peter Sandkühler
The author puts forward the thesis that, from the perspective offered by
contemorary physics, we have left Nature and entered a 'factory of phenomena'.
This implies that natural science forms part of the humanities. ...
um einzutreten in eine Fabrik der Erscheinungen
"Die Philosophie" - so Galilei- "ist in dem größten Buch
geschrieben, das unseren Blicken vor allem offensteht- ich meine das Weltall,
aber das kann man nicht verstehen, wenn man nicht zuerst seine Sprache verstehen
lernt und die Buchstaben kennt, in denen es geschrieben steht. Es ist in
mathematischer Sprache geschrieben, und seine Buchstaben sind Dreiecke, Kreise
und andere geometrische Figuren, ohne diese Mittel ist es den Menschen
unmöglich, ein Wort zu verstehen." 1
Diese Studie2 folgt dem Interesse
einer systematischen Epistemologie, eine für die moderne Wissenschaft
wesentliche Beziehungen aufzuhellen, die zwischen theoretischen Weltbildern und
ihren entsprechenden Verständnissen des WIRKLICHEN,3 wie sie sich vor allem in
Konzepten von Empirie ausdrücken Ich unternehme einen mentalitätsgeschichtlichen
Versuch4 zum Übergang von WELT-Abbildungen, wie sie realistische Ontologien
beabsichtigen, zu Welt-Bildern als intentionalen Zuständen des Geistes, in denen
sich Subjekte einer epistemischen Konstruktion von Wirklichkeit bewußt sind.
Eine solche Mentalitätsgeschichte führt zu einem Befund, den ich zunächst ganz
allgemein so kennzeichnen will: Alles wissenschaftliche Handeln5 des
Laborwissenschaftlers mag von der starken Überzeugung geleitet sein (müssen),
daß wissenschaftliche Erkenntnis zunächst und vor allem mit der Empirie des
Gegebenen zu tun hat. Die wissenschaftliche Selbstreflexion, die Meta-Empirie,
drückt sich in der Moderne indes vornehmlich in Variationen des Galileischen
Satzes aus, der über meinen Überlegungen steht. In den drei folgenden
bedeutungsgleichen Aussagen spricht sich der `neue wissenschaftliche
Geist´ aus: Cassirers teilt mit Goethe die Überzeugung, "das Höchste
sei es, zu erkennen, daß alles Faktische schon Theorie ist".6 Und: In seiner
Deutung ist die Relativitätstheorie in "allgemein erkenntnistheoretischer
Hinsicht eben dadurch bezeichnet, daß in ihr, bewußter und klarer als je zuvor,
der Fortgang von der Abbildtheorie der Erkenntnis zur Funktionstheorie sich
vollzieht".7 Bachelard schließlich bilanziert später: "Der zeitgenössischen
Physik folgend, haben wir die Natur verlassen, um einzutreten in die Fabrik der
Erscheinungen."8
Im Ergebnis werde ich als These verteidigen: Zu der
Verfassung, die sich der wissenschaftliche Geist seit Bacon in der Hervorhebung
von forschender Erfahrung, Beobachtung und Beschreibung gegeben hat, gehört
keineswegs, was der vom Idealismus des beginnenden 19. Jahrhunderts ausgeheckte
Bezichtigungsbegriff 'Empirismus' kritisch und der positivistische Kampfbegriff
der 'Tatsachen' affirmativ unterstellen: Merkmal von 'Empirie' sei es, die
Sprache der NATUR selbst nachzusprechen, d.h.WELT ohne Einmischung theoretischer
Welt-verständnisse und DATEN frei von subjektiver Interpretation zu
reproduzieren.
Ich werde mich auf durchaus heterogene
ideengeschichtliche Konstellationen beziehen, um an 'Denkstilen' der Philosophie
und der Naturwissenschaft einen Befund aufzuhellen, der von 'metaphysischen'
Realisten und Anhängern eines 'harten' Daten-Empirismus noch immer gern
bestritten wird: Philosophisches und positiv-wissenschaftliches Denken haben
seit dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts Antworten auf drei Entdeckungen
gesucht: 1. Die Wissenschaft übersetzt das 'Wirkliche' in Zeichen; 2. ihre
'Fakten' sind theoriegeladen, 3. ihre Daten sind Interpretamente.9 Philosophie
und Wissenschaften haben nach und nach entdeckt, daß die Wissenschaft es mit
Welten und die Naturwissenschaften es mit Naturen zu tun hat, deren 'Tatsachen'
im Kontext von Modellen10 die Bedeutung von 'Tatsachen im logischen Raum' haben.
Zum Befund gehört schließlich, daß der nachkantische Siegeszug der
wissenschaftsphilosophischen Idee des Subjekts und die Deutung von
'Objektivität' nach dem Maß von 'Subjektivität' keineswegs zu einem universellen
Relativismus geführt haben. Wir denken in möglichen Welten, und dies sind
Welten, für die wir die Bedingungen ihrer Möglichkeit angeben können. Ich
favorisiere keinen metaphysischen Antirealismus, sondern einen Realismus, wie er
den Erscheinungen des Kognitiven angemessen ist, d.h. epistemologisch einen
'internen Realismus', der immer ein transzendenter Idealismus ist, und
forschungspragmatisch einen Entitäten-Realismus, wie ihn heute etwa
Gilles-Gaston Granger vertritt: Die Objekte empirischer Wissenschaften sind,
strenggenommen, Abstraktionen, aber Abstraktionen, die nach Regeln auf
Sinnesbefunde bezogen werden können;11 und zwar so, daß man mit Cassirer sagen
kann: Die "Ordnung des Wissens [...] ist es, durch die wir, in der
erkenntniskritischen Betrachtung, die Ordnung der Gegenstände bestimmen".12
2. Ein neuer wissenschaftlicher Geist Die
Mathematisierung der Naturforschung hat seit der frühen Neuzeit ein Paradigma
des Weltverstehens begründet, das im Konzept 'Beobachtung' und im Typenbegriff
'Empirismus' kaum angemessen erfaßt wird. 'Beobachtung' scheint die Ontologie
einer fertigen WELT vorauszusetzen, die ihrer 'Abbildung', ihrer - so wird oft
spontan der Idealfall unterstellt - isomorphen Repräsentation durch Wissenschaft
harrt. Der dem - vermeintlich immer 'naiven' - Empirismus 13 unterlegte
Beobachtungs-Begriff muß aber von Anbeginn mit der konstruktiven Leistung des
Erkenntnissubjekts zusammengedacht werden: Theorisierung führt zur
eigengearteten Semantik der nun phänomenalen Wirklichkeit und so zu einer
zweiten Schöpfung der Natur. Mit Cassirer formuliere ich meine These so: Was
immer man sich unter 'Abbildung' vorstellen mag, - "die 'Abbildung' schaft kein
neues Ding, sondern eine neue notwendige Ordnung zwischen Denkschritten und
Denkgegenständen". 14 Schon in Fr. Bacons Philosophie der Forschung hat die
antispekulative Forderung, den 'Tatsachen' ihr Recht zu geben, koexistiert mit
der methodologischen Skepsis, die entsteht aus der Einsicht in die
intellektuelle Zurichtung der 'Tatsachen'. Zur Selbstaufklärung von Wissenschaft
gehört der Satz, der sich nun nicht mehr unterdrücken läßt: "omnes perceptiones
tam sensus quam mentis sunt ex analogia hominis, non ex analogia universi.
Estque intellectus humanus instar speculi inaequalis ad radios rerum, qui
naturam naturae rerum immiscit, eamque distorquet et inficit." 16 Der Sinn von
'Beobachtung' und 'Empirie' lädt sich so auf mit der Bedeutung von
'Bedeutung'17, und diese entsteht im Akt der intellektuellen Übersetzung. Die
sprachlichen Zeichen und mathematischen Formen sind keine stellvertretenden
Nach-Bilder von Ur-Bildern, sondern hergestellte Erscheinungen; 'Tatsachen' sind
- mit Kant - res facti, Gemachtes. Welt in der Konvergenz von Wahrem und
Gemachtem zu haben, - dies ist die Natur des menschlichen Geistes. Bereits im
'Empirismus' interessiert weniger die 'Korrespondenz' zwischen Sätzen und Fakten
als vielmehr eine im Wechselspiel von Induktion und Deduktion entstehende
dissymetrische Relation: Je mehr an singulären Daten der Welt-Erfahrung wir
unter die allgemeinen Begriffe unserer selbstgeschaffenen Symbolwelten bringen,
desto weniger an noumenaler Welt bleibt uns; (...)
Phänomen-Herstellung
ist ein Implikat des in empirischer Hinsicht ansonsten merkwürdigen Begriffs des
'Beobachtbaren'. Früh schon ist in der Moderne bekannt, ""daß keine Beobachtung
jemals ganz dem Gesetz entspricht, das durch sie gestützt werden soll"; 22 und
wissenschaftsgeschichtlich ist zu bilanzieren, "daß - von extrem seltenen
Zufällen abgesehen - das Denken der Beobachtung vorausgeht".23 In der hierin
gründenden Spannung sieht Whitehead das Neue der Mentalität des
wissenschaftlichen Geistes der Moderne: "Diese neue Tönung des modernen Geistes
ist ein heftiges und leidenschaftliches Interesse an der Relation zwischen
allgemeinen Prinzipien und widerspenstigen, eigenwilligen Tatsachen."24 Was in
den Diskursen der Wissenschaften 'Beobachtung von Tatsachen' heißt, ist immer
auch ein 'Sehen'-Können; "auch die wissenschaftliche Beobachtung -
Gestaltbeobachtung oder Konstruktionsbeobachtung - [ist] vom gemeinschaftlichen
Denkstil abhängig." 25 Immer zentraler wurde die Frage nach dem Verhältnis
zwischen Zeichen und einem Bezeichnetem, das selber zeichenförmig ist - das Buch
der Natur in den Symbolen des Geistes. Könnte man also vom Referenzproblem
absehen? Im Begriff der Natur kann nicht mehr davon abstrahiert werden, daß sie
nur als Bezeichnete erscheint. Es spricht nichts dafür, daß wir eines
ontologischen Dualismus ' Körper/Geist' und einer Wissenschaftstheorie der 'zwei
Kulturen' bedürfen. Im Denken wird die Welt verdoppelt, treten Subjekt und
Objekt auseinander. Offensichtlich aber ist für Menschen - Wesen also, die Natur
sind - die Gewinnung von Selbstidentität in der Setzung des Nicht-Selbst (der
Natur als des Anderen) wesenseigen. Und doch zeigen Philosophien wie Schellings
System von 1800, wie im komplementären Denkeinsatz von Transzendental- und
Naturphilosophie der Idealismus des Geistes als Moment der Evolution der einen
Natur begriffen werden kann. In diesem Sinne ist Naturwissenschaft
Geisteswissenschaft und Geschichte der Naturwissenschaft Kulturgeschichte, 26
wie vice versa Geisteswissenschaft auch Wissenschaft dieser Natur ist.
Die langanhaltende Überhöhung mathematischer Naturwissenschaft zur Form
von Rationalität schlechthin, für die vor allem Kant steht, 28 wurde nach und
nach fragwürdig, freilich nicht erst durch philosophische Kritik. Vielmehr
wurden in den Naturwissenschaften die Voraussetzungen für die Krisis des
wissenschaftlichen Geistes geschaffen. Es ist der Konflikt zwischen
Geist-Prinzipien und 'WELT -Tatsachen', in dem durch die Zerstörung von
Gewißheit ein bestimmtes Selbstbild der Moderne seine Stärke gewonnen hat: jene
Idee und Praxis der 'Kritik', die aus reflexiver Subjektivität entsteht. Es wäre
gewiß falsch, von einem Weltbild29 der Moderne zu sprechen. Dem baconischen
Paradigma steht unübersehbar ein anderes entgegen, das - strikt realistisch -
referenzorientiert ist und einen Begriff von REALITAET hat, der einem
abbildtheoretischen Verständnis von 'Repräsentation' entspringt. Doch kann
gesagt werden: Die Mentalität des wissenschaftlichen Geistes der Moderne ist
dominant subjektzentriert, kritisch und methodisch skeptisch. Anders: der
wissenschaftliche Geist der Moderne verweigert sich, spätestens außerhalb des
Laboratoriums und sofern er selbstreflexiv ist, einem abbildtheoretischen
Erfahrungs-Verständnis, weil er - ungeachtet methodischer Maximen der
Empirizität und Analyzität deskriptiver Aussagen über WIRKLICHKEIT - in
kritischen Impetus normativ geladen ist, Whitehead formuliert dazu, "daß die
Vernunft ein Faktor in unserer Erfahrung ist, der das Anstreben eines Ziels, das
in unserer Vorstellung, aber noch nicht in der Wirklichkeit besteht, leitet und
kritisch korrigiert".31
Wenn nun auch Naturerkenntnis nicht durch eine
(subjektivitätsfreie) Objektivität ausgezeichnet werden kann, die durch die
'Gegebenheit' der Theorie-Objekte und deshalb durch Korrespondenz von Theorie
und Wirklichkeit verbürgt ist, dann ist der Weg frei zu einer grundlegenden
Skepsis - nun nicht mehr nur gegenüber dem Objektivitätstypus der
Naturwissenschaft, sondern hinsichtlich der zuvor angenommenen ausgezeichneten
Rationalität wissenschaftlicher Erkenntnis schlechthin. 'Wissenschaft' tritt
zurück in das Multiversum anderer epistemischer und symbolischer Kontexte, in
ein Integral gleichrangiger Kulturformen.
Dies hat zugleich zu einem
Bedeutungszuwachs für eine Philosophie der Kultur geführt, denn trotz der
programmatischen Betonung der Gleichrangigkeit von Mythos, Religion, Kunst und
Wissenschaft - so vornehmlich bei Cassirer - macht die Philosophie geltend, daß
sich nicht alle Kulturformen selbst (im Sinne transzendentaler Kritik der
Bedingungen ihrer Möglichkeit) theoretisch explizieren können. Rationale
Explikation ihrer Funktion und Bedeutung ist Aufgabe einer Philosophie, die als
'strenge Wissenschaft' konzipiert wird, ohne noch Paradigmata des Naturalismus/
Reduktionismus/ Physikalismus ihren Tribut zu zollen. Ein herausragendes
Beispiel für dieses neue Denkbild ist E. Husserl, der seine Polemik "Alle
Naturwissenschaft ist ihrem Ausgangspunkt nach naiv. Die Natur, die sie
erforschen will, ist für sie einfach da." 32 aus einem epistemologischen Prinzip
ableitet: "Wenn Erkenntnistheorie [...] die Probleme des Verhältnisses von
Bewußtsein und Sein erforschen will, so kann sie nur Sein als Correlatum von
Bewußtsein vor Augen haben, als bewußtseinsmäßig 'Gemeintes': als
Wahrgenommenes, Erinnertes, Erwartetes, bildlich Vorgestelltes, Phantasiertes,
Identifiziertes, Unterschiedenes, Geglaubtes, Vermutetes, Gewertetes usw." 33
Mit andern Worten: Was bei Sensualisten als Beobachtung hatte gelten sollen, ist
Interpretation mit Theorien und Instrumenten als Mitteln des Denkens.
3. 'Animal symbolicum' - Die 'Auflösung des Gegebenen' Am
Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts vollzieht sich ein
Paradigmenwechsel vom deskriptiven Objektivitätsideal positiver Wissenschaft in
Richtung auf einen 'konstruktivistischen' Selbstbegriff intellektueller
Subjektivität, der 'Fabrikation der Phänomene'. (...)
Den Menschen als
'homo designator' und die menschliche Welt als Bedeutungs-Welt zu verstehen, ist
die Aufgabe einer Philosophie, die sich nicht länger von 'Tatsachen' faszinieren
läßt. Doch es wäre ein wissenschaftsgeschichtliches Mißverständnis, zu
unterstellen, es habe für eine kritische Transformation des wissenschaftlichen
Geistes erst dieser - oder vergleichbarer - Philosophien bedurft. Und was in
modernerer Sprache - bei Quine, auch bei T.S. Kuhn - als 'Unterdeterminiertheit
von Theorien durch Daten'40 diskutiert oder - in Analysen des Verhältnisses von
Wissenschaft und gesellschaftlicher Ordnung41 - als 'Fabrikation von
Tatsachen'42 interpretiert wird, gehört dem epistemologischen Prinzip nach zur
Methodenreflexion über 'Theorien und Tatsachen' in der Naturwissenschaft im
letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Dies sollte nicht vergessen machen wollen,
wer den 'Objektivismus' der Naturwissenschaften behauptet oder kritisiert.
(...)
Repräsentativ für die Entwicklung theoretischer und
methodologischer Probleme der Wissenschaft im 19. und 20. Jahrhundert sind viele
Vorträge, die auf den Versammlungen deutscher Naturforscher und Ärzte seit 1822
gehalten worden sind. Ein ausnehmend wichtiger Denkanstoß, auf den sich viele
später bezogen haben, ist Hermann von Helmholtz' - des Physiologen, Physikers
und Philosophen - Vortrag Über die Entwicklungsgeschichte der neueren
Naturwissenschaften mit der These, "daß unsere Empfindungen nach ihrer Qualität
nur Zeichen für die äußeren Objekte sind und durchaus nicht Abbilder von
irgendwelcher Ähnlichkeit [...]" Für ein Zeichen genügt es, daß es zum
Erscheinen komme, so oft der zu bezeichnende Vorgang eintritt, ohne daß
irgendwelche andere Art von Übereinstimmung als die Gleichzeitigkeit des
Auftretens zwischen ihnen existiert. Nur von dieser letzteren Art ist die
Korrespondenz zwischen unseren Sinnesempfindungen und ihren Objekten."45
Helmholtz' Warnung vor "übertriebenem Empirismus"46 hat Schule gemacht,
ungeachtet seiner noch traditionell realistischen reservatio mentalis, "daß
unsere Sinnesempfindungen nur Zeichen für die Veränderung in der Außen-Welt
sind, und nur in der Darstellung der zeitlichen Folge die Bedeutung von Bildern
haben. Eben deshalb sind sie aber auch imstande, die Gesetzmäßigkeit in der
zeitlichen Folge der Naturphänomene direkt abzubilden".48
Zwanzig Jahre
nach Helmholtz ist Ludwig Boltzmann Über die Entwicklung der Methoden der
theoretischen Physik in neuerer Zeit datiert. Solange - dies erhellt aus seinen
Reflexionen - eine Wissenschaft sich ihrer Methode gewiß ist, solange
Beobachtung, Experiment, Messung, unproblematisch sind, führt sie keine
Methodendebatten. Nun aber wird gefragt: In welchem Verhältniß stehen unsere
Meßmethoden zu dem Gemessenen, unsere Zeichen zu dem Bezeichneten? Boltzmann
gibt Hertz das Wort, um sein Anliegen zu verdeutlichen: Er habe "den Physikern
so recht zu Bewußtsein [gebracht], was wohl die Philosophen schon längst
ausgesprochen hatten, daß keinen Theorie etwas Objektives, mit der Natur sich
wirklich Deckendes sein kann, daß vielmehr jede nur ein geistiges Bild der
Erscheinungen ist, das sich zu diesen verhält wie das Zeichen zum
Bezeichneten."49
4. Herr der eigenen Sinnintention - Homo
designator Von nun an wird es in vielen Dimensionen der Philosophie und
der Wissenschaften nicht mehr in ontologischer Absicht um den Dualismus 'Wissen
vs. Wirklichkeit' gehen, sondern um eine (in der Regel an Kants transzendentale
Frage angelehnte) Kritik der Relation 'Theorien/Tatsachen'. Methodologie und
Theorie wissenschaftlicher Erkenntnis überschreiten die Schwelle zum Zeitalter
der Semiotik und Semantik. Das weit über eine angemessene Beschreibung dessen,
was in Wissenschaft wirklich geschieht, hinausgehende Interesse und Motiv kann
in zwei wahlverwandten Sätzen belegt werden. 1878 schreibt Ch.S. Peirce in
How to make our ideas clear?, es gehe darum "Herr unserer eigenen Sinnintention
zu sein".50(...) Philosophien wie die Cassirers sind Spiegel der Entwicklung der
'Tatsachen' des Weltbildes zu Phänomenen im Horizont von Weltbildern. 1922
bilanziert Cassirer: "Das eigentliche 'fundamentum divisiones' liegt zuletzt
nicht in den Dingen, sondern im Geiste: Die Welt hat für uns die Gestalt, die
der Geist ihr gibt."53 Damit kehrt sich die Begründungslast zwischen Ontologie54
und Epistemologie um: nun ist "die Metamorphose zu erklären, durch welche die
Erscheinung aus einem bloßen Datum des Bewußtseins zu einem Inhalt der Realität
der 'Außenwelt', wird."55 Nicht mehr das Zeichen hat sich zu rechtfertigen als
Zeichen von Realität, sondern der symbolisierende Geist fordert den
"methodische[n] 'Materialismus'" mit seinem "Bestreben, Funktionales in
Substantielles, Relatives in Absolutes, Maßbegriffe in Dingbegriffe zu
verwandeln",56 in die Schranken. Von hier aus ist es nicht mehr weit zum Theorem
der möglichen Welten, und die Idee der Theoriegeladenheit alles Empirischen ist
bereits gedacht.57 Die in der Hypothese der adaequatio rei et intellectus
unterstellte "Identität zwischen dem Wissen als solchem und seinem objektiven
Inhalt wird aufgegeben", 59 weil "das 'Verstehen' der Welt kein bloßes
Aufnehmen, keine Wiederholung eines gegebenen Gefüges der Wirklichkeit, sondern
eine freie Aktivität des Geists in sich schließt." Aus dieser Freiheit entstehen
die möglichen Welten mit ihren Indices - Welt M des Mythos, Welt R der Religion,
Welt W wissenschaftlicher Theorie, kurz: entsteht "die 'Mehrdimensionalität' der
geistigen Welt". 60 Eine Variation des Themas gibt Cassirer mit Goethe: "das
Höchste sei es, zu erkennen, daß alles Faktische schon Theorie ist".61 Als
Vorschau auf Hilary Putnams transzendentalanalytisches Konzept von Objektivität
und Rationalität 'nach Menschenmaß' (humanly speaking) ist die andere Variation
des "Anthropomorphismus" in "kritisch-transzendentalem Sinne" zu lesen, die
Cassirer wieder mit Goethe gibt: "Wir mögen an der Natur beobachten, messen,
rechnen, wägen usw., wie wir wollen. Es ist doch nur unser Maß und Gewicht, wie
der Mensch das Maß aller Dinge ist." Die Erkenntniskritik steht nun vor der
vorrangigen Aufgabe, die Umformungs-, die Transformationsregeln aufzudecken. es
kann so nicht mehr überraschen, daß für Cassirer in dem Maße, wie für ihn eine
naturalistische Begründung von Erkenntnistheorie 62 ausscheidet, die Kluft
zwischen ihr und dem verschwindet, was doch scheinbar der 'anderen Seite'
zuzurechnen war: "Erkenntnistheorie ist im Grunde nichts anderes als eine
Hermeneutik der Erkenntnis."63
Das Weltbild des homo designator hat
verschiedenste Gestalt angenommen. Allen gemein sind wesentliche Merkmale: Es
ist der Mensch, der Repräsentationen schafft; 'Realität' ist eine menschliche
Schöpfung zweiter Ordnung; 'Welt' - so Ian Hacking - ist bei der
Konzeptualisierung des Realen als eines 'Attributs der Repräsentationen'
entstanden64 Wirklichkeit ist, so Bachelard, in der Wissenschaft 'in Parenthese
gesetzt', und 'man sieht nur, weil man voraussieht'; Empirie ist theoriegeladen;
instrumentelle Erkenntnismittel sind 'reifizierte Theoreme'; Modelle sind
Selbst-Repräsentationen der geistigen Herstellung phänomenaler Wirklichkeit; die
Weisen der Welterzeugung sind wertimprägniert.
Wittgensteins Tractatus
hat seine eigene Formel gefunden, aber doch im Horizont dieser Transformation
der Weltbilder in Weltbilder: "Die Tatsachen im logischen Raum sind die Welt."65
1 Galilei 1987, Bd. 2, S. 275. 2 Zu einer weit
ausführlicheren Darstellung vgl. Sandkühler 1993. Für hilfreiche Kritik am
Entwurf dieser Studie danke ich Michael Otte und Detlev Pätzold 3 Begriffe
in Kapitälchen bezeichnen Ontologeme eines metaphysischen Realismus, d.h. Onta,
die für ihn bewußtseinsunabhängig erscheinen. 4 'Mentalität' ist hier ein
Konzept zur Beschreibung von weltbild-organisierenden Ideen-Konstellationen und
bezieht sich weniger auf Aussagen als auf Denkbilder und Denkstile. 5 Zur
wissenschaftlichen Tätigkeit im allgemeinen vgl. jüngst Bonitzer 1993, zum
experimentellen Handeln Hacking 1983. 6 Cassirer 1990, S. 31. 7 Cassirer
1987, S. 49. Zu Cassirers besonderer Nähe zur Physik vgl. Ferrari 1992, S. 177
ff. 8 Bachelard 1951, S. 17. Bachelard formuliert dies in der Absicht,
"subjektivistischen Interpretationen" der modernen Physik und der Wissenschaft
überhaupt Einhalt zu gebieten (ebd. D. 289). 9 Zu 'Interpretation' vgl. Abel
1992, S. 169. 10 Vgl. zum Verhältnis von Modellen, Simulationen und Theorien
Bonitzer 1993, S. 15-56; zu Modell als Interpretation vgl. van Fraassen 1991.
Granger 1993, S. 70. 12 Cassirer 1990a, S. 144. 13 Zu einer
ausführlicheren Darstellung vgl. Sandkühler 1991, S. 79 ff. 14 Cassirer
1990b, S. 47. Zweimalige Hervorh. von 'Denk-' durch mich. 15 Vgl. Krohn in
Bacon 1990, S. XIV ff. 16 Bacon 1990, S. 100; Hervorh. von mir. Die
problematische dt. Übers. gibt "immiscit" mit "vermischt" wieder; in Bacon Logik
der Intervention geht es um 'Einmischung`. 17 'Bedeutung' ist, hierin folge
ich Abel (1992, S. 182), "an Interpretations-Praxis gebunden". 22 Whitehead
1974, S. 68; zum Begriff des 'Beobachtbaren' vgl. ebd. S. 48. 23 Ebd. S. 59.
Zu forschungspragmatischen Gründen für einen Entitäten-Realismus vgl. Leplin
1986. Heisenberg berichtet üner Einsteins Aussage, es sei "vom prinzipiellen
Standpunkt aus ganz falsch, eine Theorie nur auf beobachtbaren Größen gründen zu
wollen. Erst die Theorie entscheidet darüber, was man beobachten kann."
Heisenberg 1990, S. 31; vgl. Röseberg 1984; diese Überlegungen fallen in die
Zeit, in der in Frankreich Bachelard in der Interpretation der modernen Physik
zu ähnlichen Ergebnissen gekommen ist. 24 Whitehead 1988, S. 13 25 Fleck
1983 [1947], S. 167. Vgl. Anm. 5. 26 zu einem ähnlichen Ansatz vgl. Janich
1992; er versteht die Naturwissenschaften nicht "naturalistisch", sondern
"kulturistisch" (S. 11 f.). 28 In Metaphysische Anfangsgründe der
Naturwissenschaft (1786) hatte Kant begründet, warum "in jeder besonderen
Naturlehre nur so viel eigentliche Wissenschaft angetroffen werden könne, als
darin Mathematik anzutreffen ist." 29 Vgl. Mies/Wittich 1990. 31 Whitehead
1974, S. 9. Vgl. zum Begriff der "Zweckursache" S. 25 ff. 32 Husserl 1965,
S. 18. 33 Ebd. S. 20 f. 40 Vgl. Quine 1975, S. 433. 41 Besondere
Aufmerksamkeit hat L. Fleck (1983) darauf gelenkt, daß "jedem Erkenntnissystem"
bzw. "jedem sozialen Beziehungeingehen" "eine eigene Wirklichkeit" entspreche.
42 Vgl. Knorr-Cetina 1984 45 Helmholtz 1869 in Autrum 1987, S. 56 f.
Hervorh. von mir. Zu Helmholtz' erkenntnistheoretischen, im Kontext der
Sinnesphysiologie entwickelten Auffassungen und zu deren Wirkungen vgl. Moulines
1981, S. 66 ff. 46 Ebd. S 60. 48 Ebd. S. 59. 49 Boltzmann 1889 in
Autrum 1987, S. 223; Hervorh. von mir. BCgl. Hertz' Vortrag Über die Beziehungen
zwischen Licht und Elektrizität (1889), der Maxwells Leistung interpretierrt
(Hertz 1889 in Autrum 1987). 50 Peirce 1991, S 186; Hervorh. von mir.
Peirces Motiv ist auch in Freges ein Jahr später erschienener Begriffsschrift
erkenntnisleitend (Frege 1964). 53 E. Cassirer. Die Begriffsform im
mythischen Denken (1992); zit. n. Orth 1992, S. 121. 54 Zum Wandel der
Ontologien vgl. Heidelberger 1981; zur Entwicklung Ontology to Epistemology im
17. Jh. und zur Dominanz kantianischer Perspektiven im 19. Jh. vgl. Richards
1992, S. 27 ff. und S. 291 ff. 55 Cassirer 1990, S. 147. Hervorh. von mir.
56 Ebd. S. 24. 57 Das Theorem der Theorie-Geladenheit wird in der Regel N.R.
Hanson Patterns of Discovery (1965) zugeschrieben. Hanson erwähnt Cassirer, aber
nicht in diesem naheliegenden Kontet. Vgl, Popper 1973, S. 165: Es gibt
überhaupt keine Sinnesdaten oder Wahrnehmungen, die nicht auf Theorien beruhen".
Vgl. Goodman 1988. Zu einer ausführlichen und sehr informativen Darstellung von
Theorieabhängigkeitsthesen vgl. Lueken 1992, S. 32 ff 59 Cassirer 1990, S.
149 f. 60 Ebd. S. 16 f. Vgl. Entsprechendes in Substanzbegriff und
Funktionsbegriff, Cassirer 1990a, S. 149 f. 61 Cassirer1990, S. 31. Zu
"'Prinzipien', 'Hypothesen' und Axiome[n]'" als Vorraussetzungen des Messens
vgl. Cassirer 1987, S. 10 u. ff., 88. 62 Vgl. hierzu Sandkühler 1992. 63 Aus
dem Nachlaß, zit. nach Krois 1992, S. 277. 64 Hacking 1983, S. 130 ff. 65
Wittgenstein 1964, S. 11.