Die Inszenierung des Zwischenraumes
> Der "Datenspaziergang"
von
Friedrich Kiesler, Raumstadt 1925
Neben der formal und
funktional richtigen Dimensionierung von Räumen für eine vorbestimmte Nutzung
werden Volumina zu Architektur durch die Qualität ihrer räumlichen Verbindung,
ihrer Zwischenräume. Die Organisation und Gestaltung von Zwischenräumen ist eine
der wichtigsten, weil qualitätsprägendsten Tätigkeit des Architekten.
Die architektonische oder städtebauliche Aufgabenstellung an den
Architekten oder Stadtplaner ergibt sich meist aus einer Aufstellung von
erforderlichen Räumen mit einem Hinweis darauf, wofür sie gut sein sollen.
Begleitet wird ein solches Raumprogramm fast immer mit der Bitte, die zur
Erschließung erforderlichen Verkehrsflächen, sprich die Zwischenräume, den
minimalsten und damit unbedeutendsten Teil der Hauptnutzfläche betragen zu
lassen. Diese inzwischen Routine gewordenen und fälschlicherweise als
"Optimierung" bezeichnete Bestreben, die Zwischenräume so sparsam wie möglich zu
gestalten, degradiert Gebäude zu gesichtslosen Volumen und läßt ganze Stadtteile
zu Gegenden verkommen.
Kriterien, die sich aus den eindeutig
funktionsbestimmten Teilen eines Gebäudes herleiten lassen, bleiben bei den
Zwischen-räumen offener und werden fälschlicherweise und ausschließlich dem
Verkehr gewidmet. Annahmen über Art und Maß ihrer über, diesen Einzweck
hinausgehenden Nutzung, sind während der Planung spekulativ. Dienen
Zwischenräume wie ein Treppenaufgang, Flur oder ein Außenbereich nicht nur dem
Verkehr, sondern auch der Kommunikation und dem Aufenthalt von Bewohnern und ist
deshalb nicht übersehen, sondern bearbeitet worden, wird Konzept und Verfasser
dem kleinen Geist des geschulten Bauwirtschafts-Funktionalisten schnell
verdächtig.
Bei einem Glas Sekt im riesigen, neorenaissancen Foyer des
städtischen Opernhauses schlägt sich der kostenbewußte Volksvertreter
fachsimpelnd vor die Brust, erklärt seinen Schlüssel von Kubikmetern umbauten
Raumes pro Wohneinheit der sich unter seiner Aufsicht in Planung befindenden
sozialen Wohnungsbauten und lobt die ihn gerade umgebende Baukunst des 19.
Jahrhunderts. So richtig, wie die dreieinhalb Zimmerwohnung im Wohnsilo im
Märkischen Viertel von Berlin auch sein mag, der Weg durch die minimalisierten
Zwischenräume hinein ist auf all seinen Etappen eine in Beton gegossene
Beleidigung ihrer Bewohner und Besucher.
Vielfalt der raumbildenden
Oberflächen und (Fassaden) und expressive Geometrie der entstehenden
Zwischenräume und Wege alleine sind keine gesicherten Indikatoren für die
Qualität einerUmgebung. Die Überbleibsel der fast monoton-gleichför migen,
gründerzeitlichen Wohnbebauungen unserer Städte empfindet man nicht als
langweilig und auch der geometrisch stringente Stadtgrundriß (z.B. Barcelona)
kann sich gegenüber dem mittelalterlichen, gewachsenen Städteplan anderer
europäischer Städte durchaus behaupten. Auf dem präzisen Quadratraster der
Wegführung im Stadtwald wandeln die Spaziergänger genausogut, wie auf
topographiebedingt verschlungenen Pfa-den gebirgiger Naturschutzgebiete.
Ein Wald von oben gesehen ist eine relativ gleichförmige, flächige
Verteilung von Bäumen. Aus der Perspektive des Spaziergängers ergibt sich der
Wald als der von aufrechtstehenden Baumrindentexturen markierte Bereich zwischen
allen Bäumen. Obwohl oder gerade wegen der großmaßstäblichen Gleichförmigkeit
der Umgebung eine Umgebung der kurzen Welle. Er findet Entspannung in der ihm
unbekannten Maßstäblichkeit seiner Umgebung mit ihrer von ihm gewohnheitsbedingt
als Harmonie empfundenen Mixtur sinnlicher Reize. Er kann auch bei niedrigster
Toleranzschwelle das laute Stak-kato des pochenden Spechts als störend
empfinden, und es gibt niemanden, der diesen Wald sichtbar für sich alleine
beansprucht.
Räumliche Qualität entsteht durch Maßstäblichkeit
(Proportion) und Komposition (Vernetzung) der raumbildenden Volumina und der
nachvollziehbaren Ausgestaltung und Detailierung der dem Zwischenraum
zugewandten Oberflächen. Zwischenräume müssen Verweilen provozieren und den
Zweck des Aufenthalts einer Person am Ort relativieren.
Während wir
verfolgen dürfen, wie sich in Berlin die Rekonstruktion der Stadt auf ihrem
historischen Stadtgrundriß vollzieht und die ohnehin wenigen uns bekannten,
Kommunikation und Stadtkultur fördernden Parameter schon längst zu Gunsten von
Profitmaximierung und damit verbundener Falschparzellierung und -nutzung der
bebaubaren Flächen aufgegeben wurden, entwickelt sich eine neue digitale Welt,
gestaltet von miteinander vernetzten Computernutzern, die mit dem Abbau der
letzten Kräne in Berlin eine bedeutende Kommunikationsplattform darstellen wird.
Zu spekulieren, ob dieser weltumspannende Datenraum die reale Welt verändern
wird, mag den Fiktionären überlassen bleiben. Wer aber in der Frankfurter
Innenstadt einmal an einem Werktag um 8,00 Uhr morgens an einer Hauptstraße
steht und sieht, daß genau gleich viele Autos von links nach rechts, wie von
rechts nach links an ihm vorbeifahren, fragt sich bei gesundem Verstand, warum
die Insassen nicht einfach Arbeitsplatz und Wohnungsort miteinander tauschen.
Der städtische Bürger ist ein Passant geworden. Ein Vorbeigender, der die Stadt
nicht mehr bewohnt, sondern nur noch zum Zwecke seines persönlichen Transportes
begeht. Transport ist Diebstahl von Zeit, Transport ist langweilig und die dem
Verkehr gewidmeten städtischen Zwischenräume sind für den Transport viel zu
schade. Der Sinn menschlicher Fortbewegung sollte nach 8.000 Jahren kultureller
Entwicklung der Wahrnehmung von Umgebung und nicht der Überwindung von Weg
gewidmet sein. Seit der Einführung von Faxgeräten (1,3 Millionen Anschlüsse in
der Bundesrepublik) müssen 3 Milliarden Briefe pro Jahr nicht mehr durch die
Straße getragen zu werden. Dinge werden zunehmend digitalisierbar, d.h.
entmaterialisiert und in Glasfaserkabeln transportierbar. So finden sie ihren
Bestimmungsort, ohne die städtischen Zwischen-räume zu belasten. Eine neue
Dimension digitaler Mobilität verkehrt das gewohnte Prinzip des
Informationsaustausches zwischen Absender und Empfänger. Der Empfänger wird zum
Datenreisenden und begibt sich selbst an den Ort relevanter Information.
Das Spektrum der sinnlichen Wahrnehmung ist im Datenraum auf Seh- und
Hörbares reduziert. Experimente zum Thema taktilen Feedback sind schon aufgrund
der Entrücktheit der hierfür konzipierten Gerätschaften sympathisch. Ob und wann
sie für die Wahrnehmung digitaler Information relevant werden, bleibt
abzuwarten, derzeit sind sie es nicht. Aufgrund dieser mediumspezifischen
Beschränkung sinnlicher Erfahrbarkeit ist der dem Wald entsprechende
Abstraktionsgrad von sich stark ähnelnden Objekten für die Darstellung von Orten
(Knoten) im digitalen Netz nicht abwechslungsreich genug, um den Datenreisenden
ausreichend zu beschäftigen. Die audiovisuelle Repräsentanz eines bestimmten
Ortes im Netz muß daher vielfältiger "städtischer" gedacht werden. Sie muß
charakteristisch sein und einen Teil seines Inhalts in Bild und Ton nach außen
transportieren.
Beim versehentlichen Anklicken eines Hypertextes in
einer www-page, von dem man sich hätte gleich denken können, daß der Verweis auf
einen Server in Übersee deutet, kann sich der normale Netzbenutzer getrost einen
Kaffee kochen gehen, denn das einzige, das er jetzt auf seinem Monitor, erleben
kann, ist das pumpende Blinken des Mosaic Icons auf seiner Netzoberfläche.
Endlich angekommen, ist die Beschaffenheit von vorhandenen Datensätzen und die
Selbstdarstellung der Serverbetreiber nur in Form von Schlagworten in
Textbrouwsern erfahrbar. Das Vordringen durch die Homepage bis zu einer
relevanten Information ist reizlos.
Eine Reise unterscheidet sich vom
reinen Transport der eigenen Person von A nach B dadurch, daß bei der
Beurteilung der Qualität einer Reise weniger die Geschwindigkeit und der Komfort
des Transportmittels, sondern die Attraktion des Weges und der begangenen
Zwischenräume das maßgebliche Kriterium darstellt. Die Faszination der Reise
begründet sich sehr stark in der Unvorhersagbarkeit ihres Verlaufes. Begeg-
nungen und Erfahrungen, zum Teil zufällig und unerwartet, werden auf einem Weg
gesammelt, mit der anfänglicher Erwartung verglichen und später häufig mit dem
Prädikat "einmalig" versehen. Einmalige Begegnungen und Erfahrungen zu
provozieren ist daher ein mögliches Thema für die Organisation von Orten der
Information, ihrer "geographischen" Zwischenräume und ihrer Verbindungen im
digitalen Netz in einen einzigen, unendlichen, räumlichen Zusammenhang. Der Ort
der Information befindet sich zwangsläufig in einer sich kontinuierlich
wandelnden Umgebung ähnlicher oder themenverwandter Informationen. Die Umgebung
des Datennetzes findet seinen "geographischen" Ort immer im Zusammenhang mit den
jeweiligen Kontext, in dem sie angefragt wird, d.h. die räumliche Umgebung oder
auch der "Stadtgrundriß" verändert sein Erscheinungsbild und seine Architektur
ständig und entwickelt sich mit der Zunahme von themenrelevanter Information
(Hypertextverweisen) anderer, themenverwandter Server. Themenstädte formieren
sich in einer virtuellen Welt zu einer unendlichen Vielfalt von räumlichen
Konfigurationen.
Die Möglichkeit einer konsequent dreidimensionalen
Bearbeitung solcher "Themenstädte" macht die einstigen Visionen der frühen
Moderne im ersten Viertel unseres Jahrhunderts unerwartet relevant. Die
Projektskizzen der gläsernen Kette oder der Raumstadt von Friedrich Kiesler aus
dem Jahr 1925 finden möglicherweise als Vorlage für zukünftige graphische
Benutzeroberflächen ihre endgültige Bestimmung. Der Aufenthalt im
dreidimensionalen Raum ist in unserer realen Welt durch das gravitationsbedingte
Wandeln auf einer Referenzebene, dem Boden, stets in einer Dimension verkürzt.
Nur wer sich einmal als Taucher im tiefen Wasser oder als Paraglider in den
Wolken bewegt hat, kennt die Erfahrung bodenloser Navigation. Die diesen Welten
aus Luft und Wasser immanente Leere in der virtuellen Welt räumlich zu füllen
und zu organisieren ist eine der herausragenden Aufgabenstellungen für den
Architekten und Designer und steht in ihrem Kontext ganz in der Tradition der
klassischen Moderne.
Um diese Themenstädte wahrnehmen zu können, müssen
die Räume zwischen den Symbolen des Ortes einer Information "begehbar" werden.
Öffentliche Räume dienen als Plattform für Newsgruppen und können als
Treffpunkte für Online-Kommunikation dienen. Der Datenreisende muß in der Lage
sein, sich dem für ihn relevanten Themengebäuden in einer von ihm gewünschten
Weise und Geschwindigkeit nähern zu können. Mit einem solchen
Navigationsinterface kann sich der Netzbenutzer vor dem Eintritt in einen
bestimmten Datensatz die jeweiligen Informationsdichte zum Thema räumlich und
akustisch erfahrbar machen, beziehungsweise bei Nichtinteresse, anders als in
der realen Welt, die Zwischenräume einfach überspringen.
Friedrich
Kiesler zu seiner correalistischen Theorie ( "Die Wirklichkeit liegt also nicht
in einem Objekt, sei es nun natürlich entstanden oder vom Menschen geschaffen,
sondern im Correalismus"), (um 1939/40)
Bildunterschrift Friedrich Kiesler:
(Abb. oben:) Raumstadt auf der Exposition Internationale des Arts Décoratifs et
Industriels s, Paris 1925;